PLYFREI DENKEN

| COMPLETE CHESS SYSTEM 2: GEHT'S AUCH MIT INTELLIGENZ? |

Für die Anhänger von "intelligenten" Schachprogrammen sind düstere Zeiten angebrochen, hat doch Frederic Friedel in CSS 4 und 5/94 die B-Strategie für so gut wie tot erklärt und ihren prominentesten Verfechter, Ex-Weltmeister Michail Botwinnik, als eine Art Baron Münchhausen des Computerschachs enttarnt, der sich seine Suchbäume in emsiger Heimarbeit selber zusammentürkt. Freilich gäbe es auch auf der Gegenseite von gewissen Problemen zu berichten: z.B., daß das Deep Thought-Team mit seinem offiziell deklarierten Zeitplan zur Parallelisierung seines Programms samt anschließender Zertrümmerung des menschlichen Weltmeisters bereits stark in Verzug geraten ist; daß prominente K.I.-Forscher wie Tony Marsland Zweifel daran geäußert haben, ob die von Feng-Hsiung Hsu vorausgesagten Geschwindigkeitszuwächse (1000 Parallelprozessoren sind ca. 300mal schneller als einer) überhaupt realistisch sind; oder daß Rainer Feldmann, ein Mitglied des ebenfalls mit Parallelisierung arbeitenden Zugzwang-Teams, den Zuwachs mit der Quadratwurzel aus der Zahl der Prozessoren ansetzt (wonach 1000 Prozessoren bloß etwa 32mal schneller wären als einer). Aber über solche Dinge liest man merkwürdig wenig, und sie sind auch kein großer Trost für den Fan der B-Strategie, der ja weniger am Scheitern der Gegenseite als vielmehr an überzeugenden Resultaten auf dem Gebiet der "intelligenten" Programme interessiert ist.
Ist also jede Hoffnung dahin, der gesamte schachspielende Erdkreis (zumindest nach PCA-Version) in den Händen des Imperiums? Nein, nicht der ganze - irgendwo in Britannien gibt es das kleine Dorf Oxonia, dessen Einwohner nach wie vor erbitterten Widerstand leisten! Ihr Häuptling Chris Whittingtonix hatte ja schon mit dem Chess Champion 2175 und dem Complete Chess System Programme vorgelegt, die sich durch ihren "menschlichen" Spielstil angenehm vom Einheitsbrei der A/B-Strategen unterschieden, aber taktisch doch zu harmlos waren, um sich entscheidend durchzusetzen. Nun aber sind uns durch den oxonischen Barden Thorsten Czubix Meldungen zugetragen worden, wonach endlich der Durchbruch gelungen und das kommende
Complete Chess System 2 auf dem besten Wege zum Spitzenprogramm sei. Die Botschaft hör' ich wohl, allein...
Nein, seien wir nicht voreilig und hören wir uns an, wie das Ganze aus der Sicht des oxonischen Häuptlings aussieht, der im folgenden Artikel seine Thesen darlegt. (Wir danken für die Erlaubnis zum Abdruck.) Dazu ein paar Vorbemerkungen: der ausgiebig verwendete Begriff "Spiegelwelt" bezieht sich auf die Fortsetzung zu "Alice im Wunderland", die von Lewis Carroll 1872 unter dem Titel "Through The Looking-Glass And What Alice Found There" veröffentlicht wurde und jedem Engländer mindestens ebenso vertraut ist wie der erste Teil. (Der Inhalt: Alice tritt durch den Wohnzimmerspiegel in eine fantastische Welt ein, die wie ein riesiges Schachspiel strukturiert ist.) Das Wort "Paradigma" wird man wohl am besten mit "Denkmodell", "grundlegendes Muster" übersetzen, und Generalfeldmarschall Erich von Manstein befehligte 1941-44 die deutschen Armee im Osten.

COMPLETE CHESS SYSTEM 2 - TAL

von Chris Whittington

Das klassische Paradigma


Wann können wir einen großen Durchbruch in einem Wissenschaftszweig erwarten? Wann wird ein einsamer Entwickler "durch den Spiegel" in eine neue Welt treten? Wer wird dieser Entwickler sein?
Die Antwort auf die ersten beiden Fragen lautet natürlich: wenn die alten, klassischen Programmierer sagen: "Wir haben Perfektion erreicht, es gibt nichts mehr zu verbessern"; wenn das alte Paradigma sagt: "Es gibt nur eine Methode"; wenn alle Entwickler in etwa die gleichen Resultate erzielen.
Das ist genau die Situation, die im Augenblick auf dem Gebiet der Schachprogrammierung besteht. Das klassische Paradigma wird von Fritz3 repräsentiert: eine schnelle und einfache Stellungsbewertung, ein "pre-processing" der Ausgangsstellung vor Beginn der Suche; und alle Stärke, alle Hoffnungen liegen in der Suche selbst - Knoten pro Sekunde und Effizienz der Suche sind die Schlüsselwörter.
In einem klassischen Programm muß die Bewertung in jedem Knoten notwendigerweise kurz sein, um die Suche schnell zu machen. Diese Bewertung besteht gewöhnlich aus nicht viel mehr als aus Gewichtungen, die für jede Figur auf jedem Feld vergeben werden (z.B. könnte ein Springer im Zentrum 3,3 Bauern, am Rand hingegen nur 2,9 Bauern wert sein), sowie einer Bewertung der Bauernstruktur unter Berücksichtigung von Doppelbauern, Freibauern etc. Das klassische "pre-processing" hält Ausschau nach Stellungsmotiven und adaptiert die Felderwerte entsprechend - wenn z.B. ein Springer ein Feld in der Nähe des gegnerischen Königs bedroht, dann wird die Gewichtung für alle Felder erhöht, von denen aus die Dame mit dem Springer in einem Königsangriff zusammenarbeiten könnte; die Gewichtung für den Springer wird so erhöht, daß er auf dem günstigen Ausgangsfeld verharrt; die Gewichtungen anderer zur Zusammenarbeit geeigneter Figuren werden ebenfalls erhöht usw.
Es ist zweifellos richtig, daß diese Methode funktioniert, aber das kann nicht der Weg sein, auf dem wir wirklich vorwärts kommen. Das aus dem "pre-processing" gewonnene Wissen wird umso wertloser, je tiefer die Suche geht, weil Positionen tief im Suchbaum sich immer mehr von den Bedingungen der Ausgangsstellung entfemen und die Anpassung der Felderwerte immer weniger Sinn ergibt. (Wozu die Damenfelder weiter gewichten, wenn der kooperative Springer längst abgetauscht wurde? Aber das klassische Paradigma versteht nichts von solchen Dingen!) Ich nenne diese Art der Suche K.D. -Künstliche Dummheit. Da alle derzeitigen Programme auf diese Weise arbeiten, sind Elolisten und Turniere der Programme untereinander nur Reflexionen einer Welt, in der die Einäugigen gegen die Blinden spielen; ihre K.D.Algorithmen mögen zwar effizient sein, aber mit Schach haben sie nichts zu tun.

Denn sie wissen nicht, daß sie nichts wissen


Klassische Programme verfügen nur über statisches Wissen, dynamisches Wissen ist der einfachen und schnellen Bewertungsfunktion nicht zugänglich.

Statische Merkmale:
- Material
- Strukturen
- Chronische Schwächen
- und anderes mehr

Dynamische Merkmale:
- Entwicklungsvorsprung
- Aktivere Figurenaufstellung
- Eine spezifische und kooperative Konzentration von Figuren auf einem bestimmten Sektor des Bretts
- und anderes mehr

Statische Faktoren neigen zur Stabilität, sie bleiben über längere Zeiträume hinweg erhalten. Dynamische Faktoren hingegen können mit der Zeit wieder verloren gehen. Statische Faktoren sind leicht zu berechnen; sie werden von klassischen Programmen berücksichtigt. Dynamische Faktoren sind schwer zu berechnen; sie beruhen auf der gegenseitigen Abhängigkeit von Figuren, "Spiegelwelt„-Programme versuchen, sie zu berücksichtigen. Und es ist eben das Fehlen der schwierigen dynamischen Faktorenberechnung, das die klassischen Programme zu so vielen schlechten Partien und schlechten Zügen verurteilt -jene Art von Partien, die es Großmeistern erlaubt. Schachprogramme auszulachen.
Wie GM John Nunn sagt: "Die Spitzenprogramme gewinnen gelegentlich gegen Großmeister, aber sie verlieren regelmäßig Partien gegen gewöhnliche Clubspieler, wobei sie oft die entsetzlichsten antipositionellen Züge machen". Was hätte er anderes erwarten können? Die alten klassischen Programme finden eine, sagen wir, 24 Züge tiefe Schachserie, kommen ans Ende der Serie, stellen fest, daß sie noch nicht zum Matt führt, und alles was sie dann tun können ist, das Material zusammenzurechnen, die Bauernstruktur zu beurteilen und eine Gesamtbewertung abzuliefern, die absolut kein Verständnis der erreichten Position verrät! Schach ohne Schachwissen zu spielen, ist nicht Schachspielen; starke Spieler werden durch ihr überlegenes Wissen solche Programme immer schlagen können. Die klassischen Programme spielen Schach, als wäre es ein Abbild der Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs, ohne Verständnis für Beweglichkeit, für das Zusammenwirken der Kräfte, für die Fähigkeit, den Feind durch gut abgestimmte Überraschungsangriffe aus dem Gleichgewicht zu bringen, nur mit Sinn für Material und Bauemstrukturen - wenn sie langweiliges Schach spielen, dann ist das der Grund dafür; wenn sie gegen Clubspieler grobe Schnitzer produzieren, dann ist das der Grund dafür. Sie verstehen nichts von dem, was wirklich wichtig ist.
Die Philosophen der klassischen Schule behaupten, daß die Suche alles findet und alles weiß. Als Beispiel dafür nennen sie die Springergabel: ohne Suche weiß das Programm nur, daß es gut ist, die Dame mit dem Springer zu schlagen. Bei einer Suchtiefe von drei Halbzügen weiß es, daß es gut ist, dem König und der Dame eine Springergabel zu geben. Bei einer Suchtiefe von fünf Halbzügen weiß es, daß es gut ist, den Springer auf ein Feld zu spielen, von dem aus er mit einer Gabel droht usw. Aber der springende Punkt ist offenbar, daß die Suche nur innerhalb des Suchbaums über dieses Wissen verfügt.

In den Endknoten hat es dieses Wissen nicht. Ein intelligentes Programm hingegen kann als Teil seiner Bewertungsfunktion berechnen, ob eine Springergabel möglich ist; daher ist bei einem intelligenten Programm dieses Wissen in allen Teilen des Suchbaums gleichmäßig verfügbar. Auf diese Weise kann Intelligenz Suche ersetzen.
Es ist wichtig, hier zwischen kombinatorischem und dynamischem Wissen zu unterscheiden. In unserem obigen Beispiel mit der Springergabel verfügt das klassische Programm über dieses Wissen nur dann, wenn es im Rahmen einer taktischen Situation entsteht - das klassische Programm erzeugt dieses Wissen also nur als Teil einer Kombination, die schließlich die Dame gewinnt. Wenn der Damengewinn nicht als Bestandteil der Suche erscheint, dann existiert auch das dazugehörige Wissen nicht!
Die Situation ist vielleicht klarer (und auch schwerwiegender) im Falle eines Königsangriffs. Wenn das klassische Programm als Teil einer Variante, die den gegnerischen König angreift, ein Matt oder Materialgewinn sieht, dann hat es "Wissen" über diesen Königsangriff; wenn es hingegen am Suchhorizont einen starken Angriff hat, aber noch keinen Materialgewinn bzw. kein Matt sieht, dann weiß es nicht, daß dies eine starke Variante ist! Das "Spiegelwelt"-Programm hingegen kann die Stärke des Angriffs im Rahmen seiner Bewertungsfunktion berechnen. So verfügt das "Spiegelwelt"-Programm über dynamisches Wissen im Hinblick auf den Königsangriff, auch ohne ein konkretes Matt oder Materialgewinn zu sehen. Das klassische Programm hat kombinatorisches Wissen nur dann, wenn die materielle Auflösung innerhalb des Suchhorizonts erfolgt. Das "Spiegelwelt„-Programm bezieht dynamisches Wissen aus seiner Bewertungsfunktion. Das "Spiegelwelt„-Programm plant, das klassische Programm findet. Das "Spiegelwelt„-Programm schaut voraus, es macht Pläne, um die Position auszunützen; das klassische Programm reagiert, es wartet auf einen Fehler des Gegners und nützt ihn dann aus.

Dynamisches Wissen gegen kombinatorisches Wissen

CCS2 486/33 • Genius2 486/33 (l min/Zug)
l.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Le7 5.e5 Sfd7 6.h4 Lxg5 7.hxg5 Ende der Bibliothek bei CCS2 7...Dxg5 8.Sf3 Dd8 Ende der Bibliothek bei Genius 2 9.Ld3 h6 10.Dd2 Das dynamische Wissen von CCS2 -verhindert l O... 0-0 wegen der Drohung Txh6 10...c5 11.Sb5 0-0?? (Diagr. l) Eine Katastrophe - jeder durchschnittliche Clubspieler versteht, daß dieser Zug eine Schnapsidee ist, aber Genius2 hat kein dynamisches Wissen und sieht kein Matt, glaubt also, alles sei O.K. 12.Txh6!! CCS2 braucht nur ein paar Sekunden, um diesen Zug zu finden 12...a6 Unglaublich aber wahr: Genius hält diese Stellung für ausgeglichen... 13.Lh7+ Kh8 14.Th5 axb5 Genius glaubt immer noch an ein Remis! 15.Ke2 CCS2 findet den „Killer"-Zug... 15...Sf6 Jetzt erst erkennt Genius, daß er in der Patsche sitzt 16.exf6 Dxf6 17.Tah1 g6 18.Lxg6+ Kg8 19.Th8+ Dxh8 20.Txh8+ Kg7 21.Th7+ Kxg6 22.Dh6+ Kf5 und Matt in 2 (1-0) Genius2, das klassische Programm, wurde hier durch dynamisches Wissen empfindlich geschlagen. CCS2 konnte nicht wissen, ob sein Angriff zu Materialgewinn oder Matt führen würde, es wußte lediglich, daß der Angriff aus dynamischen Erwägungen stark und das Materialopfer daher gerechtfertigt war.
Diese Partie zeigt deutlich den Entwicklungsgrad und die Stärke des "Spiegelwelt„-Paradigmas. Genius2, ein klassisches Programm, schien lange keine Vorstellung davon zu haben, was eigentlich los war, während CCS2 vom 12. Zug an über dynamisches Wissen im Hinblick auf die Stärke seines Angriffs verfügte. CCS2 bezog dieses Wissen aus seiner Bewertungsfunktion; Genius 2 begann erst im 15. Zug, das drohende Unheil zu erkennen, also sieben Halbzüge später. Das Wissen von Genius2 war rein kombinatorisch und wurde ihm erst dann "bewußt", als es von der Suche gefunden wurde.

Wer wird der Entwickler sein?


Um unsere dritte Frage - Wer wird der Entwickler sein? - zu beantworten, ist es notwendig, das Persönlichkeitsbild der klassischen Programmierer und ihrer Mitläufer zu betrachten. Diese Programmierer sind durch folgende Eigenschaften charakterisiert: die Unfähigkeit, ihre Emotionen zu zeigen (lächeln sie jemals?), Angst (man braucht ihnen nur zuzuschauen, wenn sie bei Turnieren ihre Programme bedienen), die Weigerung, die Arbeitsweise ihrer Programme zu erklären (versuchen Sie einmal, mit ihnen darüber zu reden l), und die Abneigung, Risiken einzugehen. Es hat mich immer überrascht, daß die sogenannten Spitzenprogrammierer selbst keine starken Schachspieler sind. Die dazugehörigen Mitläufer haben finanzielle Interessen zu verteidigen und unterstützen daher ihre Protektionskinder ebenso eifersüchtig wie sie ihre Gegner aufs heftigste attackieren. Diese Mitläufer wissen wenig, behaupten, viel zu wissen, und werden von Angst und Gier beherrscht. Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer statischen, dem Risiko abgeneigten, feindseligen, an den Ersten Weltkrieg erinnernden Umwelt.
Das neue Paradigma wird aus einer unerwarteten Ecke kommen. Von einem Entwickler mit extrovertierter Persönlichkeit, der es gewohnt ist, etwas zu riskieren, einem Entwickler mit Schachwissen, wahrscheinlich von jemandem, der bei den Verfechtern des klassischen Paradigmas, ganz bestimmt aber bei ihren Mitläufern und dem übrigen Troß des Computerschachs, unbeliebt ist. Dieser Entwickler wurde wahrscheinlich schon früher und wird mit Sicherheit auch in Zukunft von den Klassizisten heftig angegriffen.

Die Suche - Wie ein fauler Programmierer das Bewerten von Stellungen umgeht


Das neue Paradigma unterscheidet sich vom klassischen durch eine simple Änderung des Konzepts. Das klassische Paradigma erzeugt eine schnelle und einfache Bewertung in jedem Knoten und generiert Intelligenz aus dem Suchbaum. Der klassische Programmierer bemüht sich darum, seine Suche effizienter und seine Bewertungsfunktion einfacher und schneller zu machen.
Das "Spiegelwelt„-Paradigma hingegen erzeugt langsame und komplexe Bewertungen in jedem Knoten und zieht es vor, den Suchbaum auf Grund dieser Bewertungsfunktion zu beschneiden. Bei diesem Modell wird die Suche vermieden, solange sie nicht unumgänglich notwendig ist. Der Suchbaum steht daher nicht im Zentrum des neuen Paradigmas, er wird im Gegenteil nur dazu benutzt, Details, die die Bewertung übersehen hat, oder Fehler, die von der Bewertung gemacht wurden, aufzuspüren.
Das "Spiegelwelt„-Paradigma verwendet also Komponenten des menschlichen Denkens - eine detaillierte, intuitive Bewertung, wobei die Suche dafür sorgt, daß das Programm nicht m taktische Fallen läuft. Meiner Schätzung nach entspricht der Unterschied in Knoten pro Sekunde zwischen einem extremen klassischen Programm und einem "Spiegelwelt„-Programm etwa einem Faktor von 20 bis 30, was ausreicht, um dem klassischen Programm eine um zwei Halbzüge tiefere Suche zu erlauben (allerdings mit begrenztem Wissen in den Knoten). Daher muß das umfangreichere Wissen des "Spiegelwelt„-Programms so beschaffen sein, daß es diese scheinbare Verringerung der Suchtiefe kompensiert.
Die "Spiegelwelt„-Strategie erfordert viel Programmieraufwand und verlangt von dem Programmierer eine besonders gute Kenntnis der Taktik und Strategie des Schachs. Solange sich ein solches Programm im frühen Entwicklungsstadium befindet, wird es von klassischen Programmen dauernd überspielt werden, denn klassische Programme "sehen" alles, was innerhalb ihres Horizonts liegt, während die in Entwicklung befindlichen "Spiegelwelt"-Programme noch zuwenig taktische und positionelle Motive beherrschen, um mithalten zu können. Aber unsere Erfahrung zeigt, daß, wenn einmal der Durchbruch gelungen ist (d.h. genügend Schachmotive beherrscht werden, um für die geringere Suchtiefe zu entschädigen), das "Spiegelwelt„-Programm beginnt, seinerseits die klassischen Programme regelmäßig zu überspielen. Weitere Vorteile ergeben sich aus dem hohen Niveau des in der Bewertungsfunktion enthaltenen Schachwissens: bessere Zugauswahl und Sortierung, was zu einer effizienteren Suche führt, und mehr Gelegenheiten zu korrektem Vorwärtsabschneiden, was zu kleineren Suchbäumen führt. Wenn sich der Suchbaum noch durch schnellere Hardware vergrößern läßt, dann vervielfachen sich diese Vorteile geometrisch.

B- oder A/B-Strategie? Nein: auf Bewertung oder Suche beruhend!


Die Klassizisten beharren auf der Dichotomie zwischen B-Strategie (was, wenn ich es recht verstehe, bedeuten soll, daß auf jeder Stufe des Suchbaums abgeschnitten wird) und A/B-Strategie (was offenbar heißen soll, daß ein Teil der Suche ohne Abschneiden erfolgt). Der "Spiegelwelt" "Programmierer tut diese Dichotomie als bedeutungslos ab. Das neue Paradigma zeigt, worauf es wirklich ankommt: Schachprogramme haben entweder eine einfache Bewertung und erzeugen Intelligenz durch die Suche, oder sie haben eine komplexe Bewertung und benützen eine begrenzte Suche nur als Rückversicherung gegen Fehler und verpaßte Gelegenheiten. Alle Schachprogramme schneiden irgendwie ab, aber "Spiegelwelt„-Programme sind infolge ihrer komplexen Bewertungsfunktion dazu imstande, mehr abzuschneiden als andere.
Natürlich darf die Situation nicht nur schwarzweiß gesehen werden. Es gibt eine Reihe von Graustufen zwischen dem extremen (d.h.menschlichen) "Spiegelwelt„-Stil und dem extremen klassischen Stil. Am klassischen Ende der Skala wird versucht, Programme nach der "B oder A/B"-Dichotomie einzuordnen, aber im Prinzip glauben die Klassizisten doch nur an die Suche. Am "Spiegelwelt"-Ende der Skala stellt sich die Frage: wie weit erlaubt uns die Bewertungsfunktion, abzuschneiden oder zu erweitem; welche Risiken können wir im Vertrauen auf die Bewertungsfunktion auf uns nehmen? "Spiegelwelt„-Programmierer glauben grundsätzlich an die Bewertung.

Von Manstein

Wenn es stimmt, was man sagt, nämlich daß das Schachspiel der Kriegsführung gleicht, dann muß es etwas geben, was wir aus der Militärgeschichte lernen können. Ich habe schon auf den statischen, langweiligen, an den Ersten Weltkrieg erinnernden Stil der klassischen Programme (und ihrer Programmierer!) hingewiesen. Eine genau gegenteilige Strategie ist in verschiedenen historischen Episoden zu beobachten: Rommel in Nordafrika, Alexander der Große gegen Darius, Von Manstein in Rußland. Obwohl Alexander zahlenmäßig dem Feind vielfach unterlegen war, konzentrierte er den starken, beweglichen Teil seiner Armee zum Angriff auf die überlegenen Perser, bahnte sich einen Weg durch den Feind und marschierte direkt auf Darius los. Der größte Teil von Darius' Armee kam gar nicht mehr zum Einsatz, da die Schlacht bereits entschieden war - ein klassischer Fall von Königsangriff!
Von Manstein und Rommel verstanden beide, daß die Stärke der zahlenmäßig unterlegenen deutschen Armee in überlegener Planung und einer Konzentration der Kräfte lag, die dazu geeignet war, mit schnellen Überraschungsangriffen den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein "Spiegelwelt"-Schachprogramm muß ebenfalls Wissen über solche dynamische Elemente enthalten; und nur "Spiegelwelt"-Programme haben das Wissen und die Rechenzeit, um solche vorübergehende Faktoren gebührend zu berücksichtigen.

Die Tal-Funktion

Wenn es je einen Schachspieler gegeben hat, der wirklich etwas von Königsangriffen, der Konzentration von Kräften und überraschenden Vorstößen zur Verunsicherung des Gegners verstand, dann war das der russische [genauer: lettische] Großmeister Michail Tal, ein Spieler von derart romantischem und abenteuerlichem Stil, daß seine Partien allen Liebhabern des Schachs auch heute noch bleibenden Genuß verschaffen. Für die Entwickler des CCS2 war es daher eine ebenso emotionsgeladene wie unerwartete Erfahrung, ihr Programm im Stil von Tal spielen und opfern zu sehen. Gegnerische Programme, die zuvor immer Respekt eingeflößt hatten, begannen plötzlich wie Dominosteine zu fallen; sie schienen überhaupt nichts mit den Spielstil des CCS2 anfangen zu können. Wir konnten beinahe gegen jeden beliebigen Gegner spannende Partien garantieren.
Wir glauben, daß der Fortschritt, den wir mit unserem Programm gemacht haben, sowie der "Spiegelwelt„-Algorithmus, den wir entwickelt haben, uns das Recht gibt, unser Programm
Complete Chess System 2 - Tal zu nennen.

Soweit der Artikel von Chris Whittington, der offenbar viel Wahres, aber auch viel Subjektives enthält: ganz so verbissen-griesgrämig, wie hier geschildert, sind die "klassischen" Programmierer wohl nicht; daß ein Programm erst dann "intelligent" wird, wenn es sich wie die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg aufführt, wird vielleicht nicht jeder glauben wollen; und Whittingtons Charakterisierung des kommenden "Spiegelwelt„-Messias wäre ernster zu nehmen, wenn er nicht mit jedem Satz so deutlich ausrufen würde: "Seht her, ich bin's!". Aber darauf kommt es nicht an; die entscheidende Frage ist, ob er das, was er verspricht, auch halten kann. Das gegebene Beispiel ist zweifellos beeindruckend, denn wir haben uns die Jahre hindurch mit einer gewissen Apathie an zwei Erscheinungen gewöhnt: (a) die Unbekümmertheit, mit der Spitzenprogramme in gefährdete Königsstellungen rochieren; und (b) die Unfähigkeit ihrer ebenso prominenten Gegner, diesen strategischen Fehler auszunützen (kein Matt, kein Materialgewinn). Durchaus denkbar, daß sie alle ziemlich dumm aus der Wäsche gucken würden, wenn ihnen da plötzlich ein Programm entgegentritt, das wirklich etwas von Königssicherheit bzw. Königsangriff versteht.
Allerdings: große Versprechungen haben wir schon oft gehört, wirklich eingelöst worden sind sie nur selten; und für extrem selektive Programme war es schon immer charakteristisch, daß sie zu einzelnen Glanzleistungen befähigt sind, aber die Konstanz vermissen lassen, die ein echtes Spitzenprogramm auszeichnet. Ob den Leuten von Oxford Softworks jetzt wirklich ein "Quantensprung" geglückt ist und die Gegner wie Dominosteine fallen werden, muß sich also erst in der Praxis erweisen, aber die Daumen halten wollen wir ihnen auf jeden Fall, denn wenn ein einsames Dorf gegen ein mächtiges Imperium ankämpft, dann gibt es gar keine Frage, wo unsere Sympathien liegen: auf der Seite der Widerstandskämpfer! Das war schon bei Asterix so; warum sollte es bei Whittingtonix anders sein?


Weitere Partien

(auf 486/33, Turnierstufe. Kommentar: Thorsten Czub)


TASC R30 - CCS2
l.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 d6 CCS2 braucht sich nicht scheuen, gegen taktikstarke Geräte wie TASC R30 in schwierige Stellungen zu kommen. Im Gegenteil, er liebt brennende Bretter! 4.Lc4 h6 5.d4 g5 6.c3 g4 7.Db3 De7 8.Sfd2 Dh4+ 9.Kdl Th7 10.Sa3 c6 11.Ld3 Df2 12.e5 Tg7 13.exd6 Dxg2 14.Tel+ Kd8 15.Sac4 Sd7 R30 versucht einen Gegenangriff am Damenflügel 16.Sa5 Tb8 17.Le4 Dxh2 18.Thl Dg3 19.Lxc6 Lxd6 20.Dc4 Se7 21.Sfl Df2 22.Th2 Dxh2 23.Sxh2 bxc6 24.De2 Die zwei schwarzen Bauern sollten eigentlich das Rennen gewinnen 24...Sf6 25.Sc4 La6 Wer ist der Gegner? TASC R30? So kann einer ins Schwitzen kommen... 26.b3 h5 27.Dc2 Lc7 28.Se5 Sfd5 29.c4 f6 30.Sd3 Sb4 31.Sxb4 Txb4 32.La3 Tb8 33.Lc5 Lc8 34.Lxa7 Lf5 35.Dd2 Tc8 36.Lc5 Kd7 37.Tcl Le4 38.d5 cxd5 39.cxd5 Tg5 40.Kel Txd5 41.Db4 Sc6 42.Dxe4 Te5 0-1

CCS2 - TASC R30
l.e4 e5 2.f4 exf4 Diesmal hat CCS2 Weiß und spielt selbst das Königsgambit 3.Sf3 Sc6 4.d4 d5 5.exd5 Dxd5 6.Lxf4 Lg4 7.De2+ Le7 8.Sc3 Df5 9.Lxc7 Dd7 10.d5 Typisch CCS2! Sehr dynamisch... 10...Dxc7 11.dxc6 Dxc6 12.0-0-0 Kf8?! 13.De3 Lc5 14.Df4 Die Zielrichtung gegen den König ist auch hier wieder glasklar. Achten Sie nun mal darauf, was CCS2 so alles macht: Talmäßig 14...Dh6 15.Sg5! Sf6 16.Td5 b6 17.Lc4! Lh5 18.Td3 Te8 19.Lb5 Tc8 20.b4 Lg6 21.bxc5 Lxd3 22.cxd3 Dg6 23.Tel bxc5 24.Sxf7 Dg4 25.Dxg4 Sxg4 26.Sxh8 Sxh2 27.Se4 g6 28.Thl 1-0 CCS2 hat gezeigt, daß Königsgambit gegen TASC R30 kein Problem ist, wenn man nur richtig zu opfern weiß.

CCS2 - M Chess Pro
l.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6 5.Ld3 Sf6 6.0-0 d6 7.c4 Sbd7 8.Sc3 b6 9.f4 Sc5 10.Lc2 Lb7 11.e5 Sfe4 12.Sxe4 Lxe4 13.Lxe4 Sxe4 14. Tel dxe5 15.fxe5 Sc5 16.Tfl Sd7 (Diagr. 2) 17.Lg5!! Ich bezweifle, daß irgendein anderes Programm Lg5 findet. Und wenn doch, dann weil sie darin höchstens ein Dauerschach ausloten. CCS2 mit Tal-Funktion will aber mehr als nur Remis durch Zugwiederholung... 17...Dxg5 18.Df3 0-0-0 19.Da8+ Kc7 20.Da7+ Kc8 21.Dxa6+ Kb8 22.Khl Dh5 23.Tfdl Lc5 24.Sc6+ Kc7 25. Sxd8 Txd8 26.Td3 f6 27.Da7+ Kc8 28.Tadl Df7 29.Td6!! Lxd6 30.Txd6 Tf8 31.Da8+ Sb8 32.Tc6+ Dc7 33.Txc7+ Kxc7 34.Da7+ 1-0

CCS2 - Genius2
l.e4 c6 2.d4 d5 3.Sc3 dxe4 4.Sxe4 Sd7 5.Sf3 Sgf6 6.Sxf6+ Sxf6 7.Lc4 e6 8.0-0 Le7 9.Se5 0-0 10.c3 c5 11.Le3 Dc7 12.Tel cxd4 13.Lxd4 Was jeder Laie hier mit bloßem Auge erkennt, allein schon durch Abzählen der auf den schwarzen Rochade-König gerichteten Figuren, scheint für Genius2 ein Fremdwort zu sein. Er entwickelt sich am Damenflügel... 13...b6?! 14.Dd2 Ld6 15.Dg5 Weiß versucht derweil - sehr eindeutig - den König mattzusetzen 15...h6 16.Dh4 Td8 17.Lb3 Se8 18.Te3 Lb7?? (Diagr. 3) Mit diesem feinen, hochpositionellen Fianchettozug beendet Schwarz seine Entwicklung am Damenflügel, kurz bevor er am Königsflügel klassisch aufgemischt wird. 19.Sxf7!! Einfach genial! Ein echter Tal-Zug auf Turnierstufe. Warum sieht Genius2 das nicht kommen? 19...Kxf7 20.Txe6 Lxh2+ 21.Khl Ld5 22.Dh5+ Kxe6 23.Tel+ Le5 24.Lxe5 Db7 25.Lg3+ 1-0